Halb Dichterlesung, halb Kammermusik in der Krypta von St. Michaelis
Ein allzu früher Lebensherbst überschattet die Gedichte der literarisch eminent begabten Jüdin Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942) aus Czernowitz, die früh zu schreiben begann. Aus den Versen der mit 18 Jahren in einem Arbeitslager an Flecktyphus gestorbenen jungen Dichterin klingt ein starkes romantisches Sehnen und ein vitaler Hunger nach Glück. Ihre Gedichte, die besonders auf junge Menschen tiefen Eindruck machen, standen im Mittelpunkt des Eröffnungsabends eines Festivals, das am Wochenende erstmals stattfand und das den Beziehungszauber zwischen Literatur und Musik neu entfachen möchte.
Seinem Namen Kontraste wurde es indes erst in der zweiten Hälfte gerecht. Nun sprach nicht mehr Iris Berben mit untersteuertem Elan die einander stimmungsmäßig allzu ähnlichen Gedichte, nur unterbrochen von empfindsamer spätromantischer Musik für Klavier (Olena Kushpler), Klaviertrio und Blockflöten-Transkriptionen orientalischer Musik für die Schilfrohrflöte Ney (Jeremias Schwarzer).
Zum blanken Entsetzen mancher Besucher brach jetzt ein Instrumentalensemble um einen Flüsterer/Sprecher/Sänger den Zauber tiefer Melancholie; Posaunen-Glissandi, Dissonanzen, eruptive Melodien aus der Bassflöte und ein durch die Tonhöhen irrlichternder Sprechgesang prägen die Vertonung des israelisch-palästinensischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi von fünf Gedichten der jungen Selma. Schreckliche Musik, im tieferen Sinn des Wortes. Ob sie das Unsagbare in Töne fassen wollte, das Selma Meerbaum-Eisinger und so vielen geschah, die verfolgt, ermordet, ausgelöscht wurden? Musik als Mahnmal, möglicherweise. Die ausverkaufte Krypta von St. Michaelis erwies sich trotz guter Akustik aufs Neue als ungeeigneter Konzertort. Man sieht fast von nirgendwo gut.