Aufregung zum Auftakt in St. Michaelis
Ein Festival wider den Zeitgeist der Verflachung: Das musikalisch-literarische Festival „Kontraste“ hat am Wochenende erstmals seinen Anspruch demonstriert – und gewonnen. Zur Eröffnung machten die Kontraste ihrem Namen alle Ehre, sorgten am Freitag gar für einen kleinen Kunst-Skandal. Iris Berben las zunächst Poesie von Selma Meerbaum-Eisinger: Die 1942 im Alter von 18 Jahren im NS-Arbeitslager Michailowka umgekommene Dichterin aus Czernowitz schreibt eine sehnsüchtige Liebeslyrik voller Hoffnung und Lebensahnung. Träumerische, musikalische Weltliteratur ist das, ersonnen im steten Angesicht des Todes.
Iris Berben spürt Selmas Tragik in allerfeinster Balance aus mädchenhafter Zartheit und fraulich weisem Tiefgang nach. Stimmungen und Zwischentöne der Texte aufgreifend weben Olena Kushpler am Steinway, Jeremias Schwarzer an den Blockflöten, Sono Tokuda an der Violine und Julian Arp am Cello dazu Sätze von Janácek, Alexander Krein und Ernst Bloch sowie Persische Ney-Musik ein.
Nach dem Beziehungszauber von Worten und Tönen sorgten die Gedichtvertonungen von Samir Odeh-Tamimi für wachsende Unruhe in der Krypta von St. Michaelis. „Challomot“ für Tenor, Blockflöte, Posaune, Percussion und Klavier setzte nicht die zarte Schönheit von Selmas Lyrik fort, die von Gunnar Brandt-Sigurdsson gesungenen Lieder bringen vielmehr das Unaussprechliche zwischen den Zeilen zum Ausdruck. Dazu schneiden durchdringende Piccoloflötentöne wie Sirenen des Zweiten Weltkrieges ins Ohr, und archaisierende Schlagzeugfarben lassen uns Selmas Todesängste erahnen. Zu verstörend eindringlich war die Hamburger Erstaufführung des israelisch-palästinensischen Komponisten: Manch Besucher verließ den Saal. Die künstlerische Leiterin Olena Kushpler sah sich gleichwohl bestätigt in ihrem ideenreichen Idealismus für ein Kunstgrenzen und Harmoniebedürfnisse negierendes Festival abseits plumper Eventisierung. Die tief berührte Mehrheit ihres Publikums gab ihr Recht.