Wie ein Rockstar der gehobenen Klasse weiß er mit seinem Publikum umzugehen. Doch statt „Hallo Koblenz“ zu rufen, agiert Roger Willemsen cleverer. Mit frechem Charme gibt der mediale Tausendsassa zu Beginn seines Abends im Zuge von „Ganz Ohr“ zum Besten, dass er bereits zu Beginn seines Reise- und Buchprojektes „Enden der Welt“ gewusst habe, „dass es mich auf jeden Fall nach Koblenz bringt“.
Roger Willemsen verzichtete bei seiner Lesung aufs Buch. Er erzählte lieber auf höchst anschauliche Art. Erstaunen, Schmunzeln und nicht negativ gemeinte Buhrufe einkalkulierend, löst er im vollen Stadttheater mit dieser münchhausenhaften Erklärung nur Heiterkeit aus: Von der Rhein-Mosel-Stadt geht’s direkt durch die Erdkugel zu den Tonga-Inseln in der Südsee. Alles ist eben eine Sache des Standpunktes.
Zunächst klärt Willemsen die Leute über seine Schubkraft auf. Die treibt ihn aus dem „Zuhause der Routine“. Und er beschreibt den Sog, den Orte mit Charisma wie beispielsweise St. Petersburg oder Dakar auf ihn ausüben. Dann erzählt der 56-Jährige in freier wie perfekter Rede – mit poetischem Einschlag, etwas Selbstironie und bildhafter, sowie einer auch in unappetitliche Niederungen gehenden Sprache – von seinem Aufbrechen in ferne Gefilde.
Seine Enden der Welt findet Willemsen in Gegenden, an die normale Touristen nie kommen (wollen) und dort, wo kaum ein anderer Mensch danach suchen würde. Das fängt schon in seiner Heimat Oedekoven in der Eifel an. Da, erzählt Willemsen , bekam er als Junge vom Förster im Wald eine Lektion für die sensible Art des Entdeckens erteilt: „Stell dich 30 Minuten tot, fall nicht auf.“ Mit diesem feinen Gespür erlebt Willemsen auf seinen Reisen die Menschen: Da geht er mit einem achtjährigen todkranken Jungen, ein Patient seiner ehemaligen, als Krankenschwester arbeitenden Freundin, auf eine Reise an die Zimmerdecke, es geht in imaginäre Landschaften. Später, bei Willemsens Touren in Patagonien, Birma (Myanmar), Ostsibirien, Afghanistan oder im Himalaya und am Nordpol, erinnert sich der Weltenbummler immer wieder mal an den Jungen, indem er seine Konjunktive („Wer wäre ich hier“) bereist.
Willemsens Fabulierkunst bannt das Publikum, da nervt selbst sein ständiges Honigkuchenpferd-Lächeln nicht. Von der unglaublichen Geschichte über den Verlust seiner goldenen Zahnfüllung in Locarno und vom Wiederfinden in einem gelben Flokatiteppich in einer Kabuler Absteige bis zu der Begegnung mit einer Witwe, die im chilenischen Feuerland auf einem Hügel haust: Willemsen könnte so ewig mit ein wenig Dichtung und viel Wahrheit weiterplaudern, es käme keine Langeweile auf. Zumal die ukrainische Wahlhamburgerin Olena Kushpler eine alles andere als nur Pausen füllende, formidable Pianistin ist. Sie bringt Schumann’sche Melancholie ins Theater oder experimentelle wie ganz leicht dissonante Töne à la Satie oder Prokofjew sorgt. Da capo!